von oben

Nebenan schlug ein Fenster. Sie würden ihn bestimmt gleich holen. Kommen. Mit grossen Schritten trippelnd ins Zimmer ihrer Kindheit schreiten und ihn fortreissen. Dabei sind das doch meine Arme. Du liegst und dabei siehst du zur Decke. Unter den Lidern wagt sie nicht zu schauen. Es braucht lange, bis ich mich traue, dich anzufassen. Warst du nicht gestern noch bei mir? Gestern las sie ihm Gedichte vor. Goethes Erlkönig in seiner elendigen, gottverdammten Nacht. Dabei hatte sie eine schütternde Stimme und eine heisse Hand. Auf seiner. Gestern noch, da hatte er schütteres Haar. Stoss kleine Seufzer aus. Starrte an die Decke. War still. Ist starr. Starr und kalt nimmt er ihre Hand. Sie versucht, ihn durch Drücken des kleinen Fingers zum Gegendruck zu bringen. Wie gestern. Wie vorvorgestern, als ihre kleine Kinderhand in seiner grossen zur Ruhe kam. Über Berg und Stein bist du mit mir gelaufen. Den Hund in der linken, eine Schnur mit mir in der rechten Hand. Sind gipfelweise gestiegen, hoch, immer weiter. Nun schaust du müde aus. Wie er so daliegt mit offenem Mund. Schnapp doch nach Luft, du. Fester. Tiefer. Früher sassen sie oft zusammen auf der karierten Picknickdecke. Im Grünen mit blauem Himmel. Aßen Brote mit Grossmutterliebe und tranken Tee aus unserem Garten.

Lange schon wollten sie bald nach Italien. Zusammen am Meer dösen, Muscheln fangen, die grossen Zehen im Salz baumeln lassen. Murmeln in Sandschlösser stecken, sich gegenseitig eingraben, bei Sonnenuntergang Fisch essen. Dann würde sie ihn zu Bett bringen, bei leiser Nachtmusik in den Schlaf wiegen, seine Augen schliessen, die Füsse ein letztes Mal unter die Bettdecke stecken und seine Hand drücken.

Sie weiss nicht, wer ihm seine Augen zugemacht hat. Nur der Mund, der ist ein Stück weit offen.

Von nun an wird er sie sehen. Immer. Von oben.

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